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Situation der sozialen Dienste der Justiz 2016

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

 

unabhängig davon, ob Sie in der Bewährungshilfe, Gerichtshilfe oder im Allgemeinen Sozialdienst der Justiz als Justizsozialarbeiter mit unterschiedlichen Aufgaben beauftragt werden – die hier  beschriebenen Hinweise sind für die in der sozialen Strafrechtspflege Beschäftigten gleichermaßen eine durchaus wesentliche Information wert. Insbesondere deshalb, wie in den zurückliegenden Jahrzehnten geschehen, da in den Bundesländern aktuell unterschiedliche Situationen beobachtet werden können. Ruhige Zeiten bedeutet für viele Praktiker mehr Zeit für die fachliche Arbeit unter den bestehenden Bedingungen.

 

Ausgangspunkt für dieses Schreiben  sind neuerliche, verstärkte Aktivitäten einiger Landesjustizministerien sowohl durch strukturelle Veränderungen, wie durch Gesetzgebungsverfahren, Veränderungen in der sozialen Strafrechtspflege zu erreichen.

Vordergründig und jeweils für sich isoliert betrachtet werden die damit verbundenen Unzulänglichkeiten nicht gleich in ihren Aussagen und Widersprüchen deutlich, da diese Anliegen in unterschiedlichen Themenüberschriften vorgestellt und abgehandelt werden sollen.

So erfolgte erst kürzlich, Ende 2015, eine Anhörung des Rechtspolitischen  Ausschusses im hessischen Landtag zu dem Thema „Zukunft der Bewährungshilfe“. Schwerpunktmäßig ging es um die Ausrichtung der Bewährungshilfe am Konzept der Risikoorientierung. Eine weitergehende Diskussion über die modellhafte Zusammenführung von Bewährungs- und Gerichtshilfe wurde nicht geführt. Entsprechende Versuche wurden schon in den LG-Bezirken Limburg und Darmstadt gestartet. Ein Versuch seitens des Justizministeriums, die Ursachen für die seit Jahrzehnten bestehende unzulängliche Praxis bei der Gerichtshilfebeauftragung und Zusammenarbeit insbesondere mit den Staatsanwälten und Strafrichtern im Vorverfahren aufzuarbeiten, war nicht erkennbar. Hier will die Administration eigene Versäumnisse überdecken, indem nahtlos zu Organisationsveränderungen übergeleitet wird. Fachliche Inhalte und die Beschäftigung mit der realen Erreichbarkeit gesetzter Ziele sind nicht vorgesehen. Ebenso wenig erfolgten Erläuterungen über die angestrebten Veränderungen durch ein Gesetzesvorhaben zur „Stärkung der Bewährungshilfe“, welches im Bundesrat einstimmig gebilligt wurde.

Der in Baden-Württemberg, erst durch eine Klage eines Kollegen aus der Bewährungshilfe und durch das Bundesverwaltungsgericht zu seinen (+unseren) Gunsten, eingeleitete Ausstieg der Bewährungs- und Gerichtshilfe Ende 2016 aus der Privatisierung hat sowohl bei den politischen Akteuren wie im Justizministerium Entscheidungsnotwendigkeiten ausgelöst. Verschiedene Szenarien über mögliche Organisationsformen wurden und werden angedacht, sollen aber nicht vor den Landtagswahlen entschieden werden. Hierzu gehören gegenwärtig immer noch im Gespräch stehende Neustart BW-  Produkte, die gegen Bezahlung durch das Land übernommen werden könnten. Die Landtagsfraktion Grüne/Bündnis 90 teilte uns mit, man wäre an der Übernahme der Geschäftsanteile der Neustart BW gGmbH durch das Land interessiert. Einstimmig ist diese Lösung von der Fraktion verabschiedet worden. Gegenwärtig will der Justizminister ein „Landesamt“ vorschlagen, formal hat der Landtag hierüber zu beschließen, dieses jedoch erst nach den Wahlen.

Hierzu merken wir an: alle Kosten für den Aufbau von Strukturen der Neustart-Organisation wurden vom Land getragen, ebenso die Ausstattung und die Kosten der Büroräume landesweit. Im Rahmen der Evaluation der Arbeit der Bewährungshilfe, der Gerichtshilfe und des TOA haben drei Professoren eine Reihe von erheblichen Fehlern in den Arbeitsfeldern benannt. Bei der Veröffentlichung des Abschlussberichtes durch das JM wurde die „Zusammenfassung“ der 300 Seiten umfassenden Ausarbeitung vorangestellt und eine positive Bilanz gezogen, ohne die aufgelisteten Fehler zu berücksichtigen.

Für uns ist dieses nicht verwunderlich, da hier die Bewertung von jener Stelle erfolgte, die zusammen mit Neustart BW gGmbH für die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren Verantwortung trägt.

Unangetastet soll die Standortfestlegung bestehen bleiben. Gab es vor der Privatisierung die Dienststellen der Bewährungshilfe bezogen auf die Fläche der LG-Bezirke häufig in mehreren Städten, so wurden von vormals über 40 Dienstsitzen in 17 LG-Bezirken eine Reduzierung auf 9 Einrichtungen vorgenommen. Wenn der Betrachter in seinem Bundesland die Bürostandorte in dem Maße wie in BW ausdünnt, kann jeder in der Bewährungshilfe tätige Sozialarbeiter die Auswirkungen in der Umsetzung der praktischen Arbeit leicht erfassen. Es bedeutet längere Wege, um zu den Probanden persönliche Kontakte umzusetzen – oder der Betreute hat seinerseits einen deutlichen Aufwand zu betreiben, um Treffen zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit Risikoprobanden und die damit geforderte Kontaktdichte wird erkennbar, wie lückenhaft und nicht abgestimmt die Entwürfe sind.

In Bayern läuft ein Modellversuch im OLG-Bezirk Bamberg „Bewährungs- und Gerichtshilfe in Personalunion“. Auch dort wurden Entscheidungen ohne die vorherige Beteiligung der Organisationen der Bewährungs- und Gerichtshilfe gefällt. Dahinter stehen nicht vordergründig dargestellte Qualitätsverbesserungen, sondern die trickhafte, flächenmäßige Abdeckung der Gerichtshilfe landesweit – ein Taschenspielertrick, um die reale Situation in Bayern zu bereinigen. Gegenwärtig gibt es seit Jahren nur in München, Augsburg, Nürnberg, Würzburg und Memmingen jeweils bei den dortigen Staatsanwaltschaften Gerichtshelfer. Diese Fachleute sollen nicht nur in einem LG-Bezirk Aufträge ausführen.

 

Es ist notwendig, überschaubar auf zwei wesentliche Ausgangspunkte hinzuweisen. Diese sind in den zurückliegenden Jahren ständig übersehen bzw. ausgeblendet worden. Eine einheitliche Entwicklung und somit eine bundesweite gemeinsame Grundlage wurde u. a. deshalb  bislang nicht erreicht.

Alle Fachleute in der Justiz sind nach dem Grundsatz der Spezialisierung bestimmten Bereichen zugeordnet worden, um hierdurch ein vertieftes Fachwissen zur Anwendung zu bringen.

Besonders in dem Einsatz der Rechtspfleger und Juristen wird dieses unschwer erkennbar. Rechtspfleger sind in den Arbeitsbereichen Vollstreckungsverfahren im Strafrecht, in Insolvenzverfahren, Grundbuchangelegenheiten, beim Handels- und Vereinsregister, bei Zwangsversteigerungen von Grundstücken, bei Familien- und Betreuungsverfahren und Nachlassangelegenheiten tätig.

Vergleichbar spezialisiert setzt die Justizverwaltung die Juristen ein. So sind diese als Richter im Zivil-, Straf-, Familien-, Jugend- und allg. Strafrecht weit überwiegend als Spezialisten tätig. Wir finden sie in dieser eingegrenzten Fachlichkeit bei den Verwaltungs-, Sozial-, Arbeits- und Finanzgerichten. Also als Spezialisten.

 

Demgegenüber steht die zweifelhafte Vorstellung, dass Sozialarbeiter in den Allgemeinen Sozialdiensten der Justiz alle Einsatzfelder abdecken nach dem Motto „Alle machen Alles“! Es gibt hierfür mehrere Deutungen: Wir Sozialarbeiter sind umfassender und besser ausgebildet – dieser Darstellung werden insbesondere Juristen widersprechen – oder unsere Berufsgruppe wird in ihrer Fachlichkeit nicht auf Augenhöhe eingeschätzt.

Suche sich jeder die ihm genehme Antwort aus. Betrachtet man die Besoldung, ist der Unterschied eindeutig.

Betrachten wir den zweiten Hinweis, so ist die Ausgangslage präzise erfassbar. Die Gerichtshilfe wurde von Juristen entwickelt und originär mit der Aufgabe betraut, ihnen nicht zur Tat, sondern Hinweise zur Täterpersönlichkeit vorzulegen. Dieser Sozialdienst wurde mit der Einführung der Gerichtshilfe in die Strafprozessordnung durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) im Kapitel zum Ermittlungsverfahren deutlich benannt.

Da es um ein zustimmungspflichtiges Gesetzesvorhaben ging, war der Bundesrat zu beteiligen. Dort wurde die Gesetzesvorlage abgeändert.

Im § 160, Abs. 3 heißt es: „Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sollen sich auch auf die Umstände erstrecken, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind. Dazu kann sie sich der Gerichtshilfe bedienen.“

Damals betonten alle Bundesländer in ihren Länderverordnungen nach in Kraft treten des Art. 294 EGStGB am 1.1.1975 die vorrangige Tätigkeit der Gerichtshilfe im Ermittlungsverfahren und wiesen darauf hin, dass die Gerichtshilfe ferner auch für Entscheidungen, die dem Urteil nachfolgen, in Anspruch genommen werden kann.

Die neuen Bundesländer übernahmen diese Aussage nach der Widervereinigung in ihren Landesverordnungen.

Von der Ausgangslage mit dieser klaren Absichtserklärung her hätten die Entwicklung und der praktische Einsatz der Gerichtshilfe in den Bundesländern unabhängig von den Organisationsformen eine vergleichbare Entwicklung nehmen können.

Das Gegenteil ist eingetreten. Hierzu können beim Lesen der Artikel von Frau Lutzebäck „Soziale Dienste der Justiz in Deutschland: Ein Ländervergleich“ und Hering „Stand und Perspektive der Gerichtshilfe“ ausführlicher die Auswirkungen der Organisationsformen sowie die mangelhafte Überprüfung von Entwicklungen erkannt werden. Sie finden diese Veröffentlichungen in der Zeitschrift Forum Strafvollzug, Heft 2/2014; www.forum-strafvollzug.de

 

Was, wie und von wem jenseits von fachlichen Notwendigkeiten im Namen einer scheinbar besseren Effektivität und Effizienz versucht, unterdrückt oder durchgeboxt wurde, kann sowohl in den genannten Ausführungen wie aus dem Gesetzesantrag zur Stärkung der Bewährungshilfe entnommen werden.

Hier nun unsere Darstellung auch zu diesem Gesetzesantrag.

 

Ziel soll es sein, eine sofortige Sachentscheidung über einen Gesetzesantrag des Bundesrats vom 23.05.2014 an den Bundestag, den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Bewährungshilfe und der Straffälligenarbeit, herbeizuführen.

Dieses ist bislang nicht geschehen. Bei der DBH–Bundestagung wurde dieses Thema diskutiert. Seitens der ADG sehen wir in den Ausführungen und Begründungen Parallelen  zu der Strafprozessordnung über die Beiziehung der Gerichtshilfe im Ermittlungsverfahren. Auf diesen Ansatz möchten wir Ihre Aufmerksamkeit lenken.

In der Begründung des genannten Entwurfes finden wir an mehreren Stellen Ausführungen über die Arbeit der Bewährungshilfe mit Beschreibungen, die in vielen Punkten eine deutliche Übereinstimmung mit den Darstellungen über den vorrangigen Einsatz der Gerichthilfe und die damit verbundene Aufgabenstellung aufweisen.

Der Unterschied in diesem Punkt zwischen Bewährungs- und Gerichtshilfe besteht lediglich in den Aufgabenverpflichtungen in unterschiedlichen Verfahrensgängen, die bislang in den Bundesländern deutlich voneinander abweichend wahrgenommen werden.

Interessant, dass hier Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern (2011) und Sachsen (2014) Ausarbeitungen vorlegten. Diese Länder haben in ihren Länderverordnungen wie die übrigen Bundesländer die vorrangigen Aufgabenstellungen der Gerichtshilfe im Ermittlungsverfahren hervorgehoben. Tatsächlich gibt es dort keine nennenswerten Beauftragungen in diesen Aufgabenbereichen.

 

In der Begründung zu dem angestrebten Gesetz zur Stärkung der Bewährungshilfe … finden wir Beschreibungen wie „die oft nicht belastbaren Angaben des Verurteilten zu seinen Lebensverhältnissen … können jedoch so einer Realitätsprüfung unterzogen werden“.

Die Gerichtshilfe soll sinngemäß in der Persönlichkeitsberichterstattung vergleichbar vorgehen. Sie hat nicht nur das zusammenfassen, was der Beschuldigte anbietet.

An anderer Stelle wird im Gesetzesentwurf wie folgt ausgeführt „Bei einem Risikoprobanden, bei dem ein Rückfall mit erheblichen Gefahren für Leib, Leben, persönlicher Freiheit oder sexuelle Selbstbestimmung anderer zu befürchten ist, muss schnellstmöglich auf eine sich abzeichnende gefährliche Entwicklung reagiert werden“.

Weiter “Um passgenaue, auf die individuellen Bedürfnisse des Gefangenen zugeschnittene wirksame … sind die Persönlichkeit und die Lebensverhältnisse des Gefangenen zu erforschen“.

Von der Zielsetzung her betrachtet geht es um genauere und sichere Erkenntnisse wie bei einem „Beschuldigten“ im Ermittlungsverfahren. Hierzu die Festlegung des BGH über notwendige Aussagen für Urteile der Strafgerichte:

Ohne die Kenntnis der Täterpersönlichkeit lässt sich weder das Maß der persönlichen Schuld eines Täters noch Maß und Art seiner Resozialisierungsbedürftigkeit, insbesondere nicht seine Strafempfindlichkeit beurteilen.

Präziser und umfassender als dieses der Bundesgerichtshof für Strafsachen (BGHSt, 7, 28 ,31) dargestellt hat, kann diese Notwendigkeit nicht hervorgehoben werden.

 

Wenn in der Begründung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Bewährungshilfe … auf die Notwendigkeit im Vollstreckungsverfahren wegen der Gefahr, insbesondere bei den Risikoprobanden, umfassende soziale Ermittlungen durch die dortigen Sozialarbeiter als notwendig und unverzichtbar beschrieben werden, stellt sich doch die Frage, ob diese Informationslücke nicht schon in den davorliegenden Verfahrensgängen vorhanden war.

Oder geht es zentral eher um die Verantwortlichkeit bei möglichen neuerlichen Straftaten? Hierzu passt die Formulierung in der Begründung auf S. 8 „Das Risiko und die Verantwortung für eine fehlerhafte Informationsübermittlung tragen die Bewährungshelfer“.

Urteilen und entscheiden Sie, ob und wie in der Sache reagiert werden sollte, unabhängig davon, ob Sie eine derartige Persönlichkeitsberichterstattung im Ermittlungsverfahren als Aufgabe ausführen wollten. Berücksichtigen Sie, dass ein regelmäßiger Austausch zwischen den Ministerien existiert und es außerdem häufige Treffen von „Fachleuten“, die für uns denken und handeln (wollen), gibt.

Die Vorgabe „Gerichtshilfe ist von den Landesjustizverwaltungen vorzuhalten“ ist weiterhin ein Fakt.

 

Wie in allen Lebensbereichen und Arbeitsfeldern ist der Ausgangspunkt eine möglichst genaue Grundlagenarbeit (Anamnese, Diagnose), ehe nachfolgende Arbeitsschritte/Festlegungen auf der Basis abgesicherter Erkenntnisse einzuleiten sind. Dieses gilt nicht nur in Bereichen der z. B. medizinischen Versorgung, sondern auch für die Strafrechtspflege.

 

In nicht nur einem Landesjustizministerium ist ein derartiges Grundwissen für Festlegungen und Begründungen einer Anzahl von Initiativen nicht erkennbar. Woran dieses liegen könnte, sollte offen kommuniziert und bei Fachtagungen herausgestellt werden.

Möglicherweise sollten wir aktiv der Anregung des Hamburger Fürsorgevereins folgen und „Resozialisierung neu denken“!

 

Mit kollegialen Grüßen

Rainer-Dieter Hering

ADG – Präsidium

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